Was ist eine Sorgende Stadt?

„In einer Sorgenden Stadt stehen die Bedürfnisse aller ihrer Bewohner*innen im Zentrum.

Es gibt Gesundheitszentren, in denen alle gut versorgt werden und in denen auch die psychische Situation, Arbeits- und Wohnbedingungen Berücksichtigung finden. In jedem Wohnviertel gibt es ein Nachbarschaftszentrum, in dem ohne bürokratische Hindernisläufe professionelle Hilfe bei Kinderbetreuung, Assistenz oder ambulante Pflege vermittelt wird. Dort gibt es aber auch Raum für geteilte Sorgearbeit in Eltern- und Unterstützungsgruppen oder Gemeinschaftsküchen. Hier können sich Menschen in der Nachbarschaft vernetzen, kennenlernen und austauschen. Es gibt einen kostenfreien Nahverkehr, der klimagerecht ist und auch in Randbezirken regelmäßig fährt.

Die Straßen und Parks sind so gestaltet, dass Frauen und Queers im Dunkeln weniger Angst vor Gewalt haben müssen. In einer sorgenden Stadt finden alle bezahlbare Wohnungen. Auch Menschen mit Fluchtgeschichte und besonders vulnerable Gruppen haben unkomplizierten Zugang zu den sozialen Angeboten der Stadt.

Und das wichtigste: Wir alle, die sich beteiligen möchten entscheiden über alle diese Fragen in demokratischen Gremien und Rätestrukturen. Die gibt es in unserer Nachbarschaft, unseren Stadtteilen und für die gesamte Stadt.“1  

Die Realität

Leider sieht die Realität heute noch ganz anders aus: Städtische und öffentliche Einrichtungen werden immer weiter abgebaut und privatisiert. Der freie Markt ersetzt sie nur begrenzt und zu viel zu hohen Preisen, die sich viele nicht leisten können. Viele Sorgeaufgaben – insbesondere bei der Kinderbetreuung, Bildung, Pflege, Gesundheitsversorgung und Assistenz – müssen privat und in den eigenen vier Wänden übernommen werden, nach wie vor vorwiegend von Frauen. Und dieser Raum wird angesichts steigender Mieten außerdem immer unsicherer und enger. Damit können und wollen wir uns nicht abfinden.

Das Konzept der Sorgenden Stadt wurde von der linken Rosa-Luxemburg-Stiftung entwickelt und auf der Konferenz „Sorgende Städte“ in Bremen im Januar 2023 vorgestellt und diskutiert. Inspiriert ist es von Vorbildern aus Spanien und Südamerika. Grundlegend ist die Frage: Wie kann ein feministisches Transformationsprojekt in Richtung einer antikapitalisitschen, demokratischen und bedürfnisorientierten Gesellschaft aussehen? Durch konkrete Projekte und Politiken im Rahmen einer Sorgenden Stadt kann Utopie im Alltag schon konkret erfahrbar werden und den Weg für größere Umgestaltungen der gesellschaflichen und städtischen Infrastruktur ebnen. Vorort, die Stadt oder die Gemeinde, ist da, wo auch die Krisen spürbar, Veränderungen dringend sind. Und gleichzeitig begegnen wir uns dort direkt, können durch kleine Projekte wie etwa ein neues Nachbarschaftszentrum erfahren, dass ein gutes Leben für alle möglich sein kann und motiviert und gestärkt dadurch selbst aktiv werden. 

Vorbilder

Barcelona
Die linke Stadtregierung von Barcelona en Comú legte 2017 als eine wesentliche Säule ihres „rebellischen Regierens“ ein „Maßnahmenpaket für eine Demokratisierung der Sorge in der Stadt Barcelona“ vor. Auch wirtschaftspolische Maßnahmen sollten über Fragen der Unternehmens- und Arbeitsmarktpolitik hinausgehen, auf den gesamten (auch unentlohnten) Care-Sektor ausgeweitet werden und Ansätze einer solidarischen Ökonomie, der Selbstorganisierung und von Genossenschaften in den Vordergrund stellen. Unter Beteilung aller anderen betroffenen Ressorts sollte ein »Präzedenzfall für eine öffentliche Sorgepolitik« geschaffen werden, die Care-Arbeit auf die verschiedenen Akteure – also Staat, Markt, Privathaushalte und gemeinwirtschaftliche Strukturen – neu verteilt. Im Kern ging es darum, konkrete Verbesserungen im Alltag mit dem Fernziel einer geschlechtergerechten Sorgeökonomie zu verbinden.

Die meisten ProjektePlans betreffen eine »Vergesellschaftung der Sorgearbeit« und sind darauf gerichtet, neue öffentliche Infrastrukturen wie Familienzentren und Krippen zu schaffen, bestehende auszubauen und den Zugang für vulnerable Gruppen zu erweitern. Eine neu eingeführte »Care-Karte« (tarjeta cuidadora) entlastet beispielsweise Menschen mit besonderer häuslicher Sorgeverantwortung durch einen bevorzugten Zugang zu städtischen Sorge-Infrastrukturen und sozialen Diensten. Ein weiteres Maßnahmenbündel zielt darauf ab, gemeinwirtschaftliche Projekte sowie Initiativen der Selbstorganisierung logistisch und finanziell zu unterstützen, etwa Mehrgenerationenhäuser. Schließlich soll über veränderte Vergaberichtlinien auch auf private Träger insbesondere in der Altenpflege eingewirkt werden, um die dortige Qualität der Pflege und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Um diesen Umbau konkret anzuleiten und entsprechend durch Öffentlichkeitsarbeit zu begleiten, wurde in jedem Stadtbezirk eine Stelle für eine*n Fachreferent*in für Care-Ökonomie geschaffen.

Freiburg soll Sorgende Stadt werden

Wir, vom Feministischen und Frauenstreik Freiburg sind überzeugt, dass auch Freiburg hat das Zeug hat, eine „Sorgende Stadt“ zu werden. Bereits jetzt gibt es schon Projekte und Einrichtungen, die sich an den Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen orientieren und demokratisch gestaltet sind: In der Bewegung „Poliklinik Freiburg“ arbeiten engagierte Personen aus dem medizinischen, sozialarbeiterischen und pädagogischen Bereich am Aufbau eines Stadtteilgesundheitszentrums. Ziel ist es nicht allein die konkrete ambulante medizinische Versorgung anders zu denken, sondern gesundheitliche und soziale Chancengleichheit und mehr Lebensqualität im Stadtteil insgesamt zu fördern. Ein weiteres Beispiel für eine sorgende Infrastruktur ist etwa auch das Netzwerk „Soldarity City Freiburg“, das sich mit dem Ziel zusammengeschlossen hat, Menschen mit eingeschränktem oder undokumentiertem Rechtsstatus Zugang zu städtischen Dienstleistungen zu gewähren. Hier wird deutlich, dass im städtischen Kontext im kleinen revolutionäre Schritte getan werden können.

Eine Sorgende Stadt als gemeinsames Ziel kann als Grundlage für eine Vernetzung und Zusammenarbeit solcher Inititativen vor Ort dienen, welche in der Formulierung eines Aktionsplans „Sorgende Stadt“ münden könnte. Ein politischer Aktionsplan „Sorgende Stadt“ umfasst kurz- wie langfristig umzusetzende Projekte die gemeinsam einen gesellschaftsverändernden Charakter haben. Dazu gehören als »Einstiegsprojekte« etwa die Forderung nach einer Rekommunalisierung privater Dienstleistungen2 in der Altenpflege oder der Ausbau von Gesundheits- und Nachbarschaftszentren. Diese könnten Unterstützungsangebote etwa für ältere Menschen und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bieten, ebenso wie Räume für geteilte Sorgearbeit in Elterngruppen oder Gemeinschaftsküchen. Dazu gehören Maßnahmen, die eine Stadt für alle zugänglich machen, wie etwa ein kostenfreier öffentlicher Personennahverkehr oder ein Krankenschein, der auch Menschen ohne Papiere einen Zugang zur Krankenversicherung ermöglicht. Es geht aber auch um eine Stadt, in der sich alle wohlfühlen, mit Grünflächen und breiten Wegen, mit Beleuchtungen in der Nacht und weiteren Maßnahmen gegen sexualisierte Belästigung im öffentlichen Raum und dem Verbot anlassloser Polizeikontrollen. Und dazu gehört der Anspruch, die öffentliche Verwaltung so umzubauen, dass Geschlechtergerechtigkeit und die Gewährleistung guter Sorgeverhältnisse zu zentralen Kriterien ihres Handelns werden und kontinuierlich in basisdemokratischen Gremien und Rätestrukturen überprüft wird, welche Angebote notwendig sind und ob sie tatsächlich auch für alle zugänglich sind.

1 Quelle: https://sorgende-staedte.org/mehr-dazu/ 

2Rekommunalisierung bedeutet, dass bestimmte lebensnotwendige Dienstleistungen (z.B. Altenpflege), die hauptsächlich von privaten Unternehmer*innen angeboten werden, wieder von Städten, Gemeinden und Landkreisen übernommen werden. So wird es möglich, sie von den Gewinnzwängen des freien Marktes und  ein Stück weit zu befreien und bedürfnisorientierter und auf Grundlage von basisdemokratischen Entscheidungen zu gestalten.